Das war 1974 der Titel eines Buches über die erste soziologische Untersuchung in der Bundesrepublik Deutschland. (1) Damit bin ich damals ab in die Ferien nach Tunesien geflogen. Mit einem Liebesroman von Roger Peyrefitte habe ich nach meinem coming out 1970 zum erstenmal die Bar „White Horse“ im Kleinbasel betreten. Ich las hinter einer Stange Bier, gleich vorne links beim Eingang und wagte ab und zu einen Blick auf die Szene an der Bar.
In den 70er Jahren holte die Schwulenbewegung Homosexuelle aus den Parks, Klappen und versteckten Bars heraus auf die Strasse und machte sichtbar, was vorher nur als Kriminalgeschichten von der Polizei an die Presse gegeben worden ist. In den 80ern dann blühte eine Szene auf, die nicht mehr nur private Partys gab, sondern fröhliche Veranstaltungen in Lokalen organisierte und regelmässig auf die Strasse zur Selbstdarstellung rief. Flugblätter und Infos wurden verteilt.
Unser Leben im „schwulen Alltag“ war fassbar geworden und liess sich in einer Publikation wie dem CRUISER auch eindrücklich beschreiben. Regelmässige Inserate der Lokale bildeten zunehmend eine finanzielle Basis. Schwule ‚Werbefritzen‘ und talentierte Autoren schrieben für ein grösser werdendes Szenepublikum. In den neuen Magazinen bildete sich das „ungewöhnliche/gewöhnliche Leben“ ab.
„Es wird unterschätzt, wie wichtig es ist, als Teilnehmer von Subkulturen nachträglich auch darüber zu lesen. ‚Gestern‘ war es nur ein Traum, ein Abstecher in den dunklen Park, ein verschwinden in einer Rotlichtbar, ein dumpfer Schmerz von einem unbekannten Geliebten. Heute haben wir nicht nur geträumt – schwules Leben findet tatsächlich statt.“ (Schrieb ich 1995)
In den 90ern der HIV-AIDS-Pandemie war der direkte Weg zu Betroffenen für die Infos zur Prävention lebenswichtig. Diskussionen aus jener Zeit sind noch in alten Nummern nachzulesen. (Cruiser-Archiv, digital Internet)
Im April 1990 konnte ich das Basler coming out-Blatt in einer grösseren Auflage in die Szenen der Deutschschweiz liefern. Wenig später meldeten sich „die Zürcher“ mit einer Anfrage zur Zusammenarbeit. „Grösstmögliche Unabhängigkeit – Gegendarstellung für Kritisierte – kein offizielles Organ für Guppen…“ das waren Ideen die ich vorschlug. Im Juli/August jenes Jahres erschien ein Cruiser mit Textbeiträgen aus Basel. Der damalige Herausgeber Thomy Schallenberger äusserte sich zuversichtlich zu dem Projekt. Mein erstes „Basler Läckerli“ war im Februar 1991 zu lesen und im Mai erschienen schon erste „zickige“ Bemerkungen eines Zürcher Lesers. Meine Kolumne zierte das Züriblättli/Zeitung für schweizer Gays bis in den Sommer 1993. Basler Läckerli und Züri Tirggel unterschieden sich mindestens so wie die Dialekte! In jener Zeit war szene- und gesellschaftspolitisch viel los. Voll beschäftigt – auch mit Radiosendungn – in Basel, hatte ich noch ein wöchentliches Blatt lanciert.
Du hast auch den Eindruck, das müsse hundert Jahre her sein? Es sind gefühlte dreissig! Schwule und junge Queers haben es nicht so mit ihrer Historie. Aber im Cruiser-Archiv ist einiges nachzulesen und es öffnet dir die Türe zur Vergangenheit. Hier findet sich «der gewöhnliche Homosexuelle», der nicht in wohlfeilen Romanen erweckt und in der Person hübscher Männer feilgeboten wird. Unsere Ahnen waren früher nur in Polizeiakten zu finden. Heute gibt es DVDs und Serien im Internet – aber us-amerikanisch geprägt. Sie erzählen darin von Dramen, Komödien und dem Wolkenkuckusheim.
Unsere ‚alternative Familie‘ gibt es und im Gedruckten findest Du auch Kolumnen und Gedanken darüber. Anders als in „sozialen Medien“ denken und schreiben hier immer mehrere Menschen zusammen – für Leser, die weder Szenestars oder Influencer sein können. Viele Kulturen pflegen das Innehalten und Nachdenken über die Vergangenheit. Doch wo bleiben in der Queerszene „Erntedankfest“ und Erinnerungen an all die gewöhnlichen Homosexuellen, unsere Vorfahren?
Peter Thommen_71, Basel
1) Martin Dannecker/Reimut Reiche, S. Fischer
P.S. Den Text schrieb ich anlässlich der 35 Jahre Cruiser in Zürich. Leicht gekürzt in der Ausgabe 12’21 publiziert.
Diskussion über den Film von Praunheim: Nicht der Homosexuelle… 1973