Vom Überlebensraum zum diskriminierten Ghetto
Heute blicken viele Junghomos auf die sogenannte „gay Szene“ hinab – während sie selber sich in der „sauberen“ virtuellen Gayszene – tummeln. Für unsere Vorfahren war aber eine – wie auch immer geartete – Szene „überlebenswichtig“. Schon immer hatten mich die Türen mit Guckloch in der deutschen Gayszene an die Geschichte der Schwulen erinnert. Ein Relikt aus gefährlichen Zeiten…
Doch auch bei uns war die „schwule Welt“ lange Jahrzehnte hinter Türen verborgen. Sowohl zum Schutz der Gesellschaft (!) als auch als Schutz vor der heterosexuellen Gesellschaft gedacht. Ich erinnere an die wechselnden Lokalitäten für die Anlässe des Kreis in den 50er und 60er Jahren in Zürich: „1961 – Trotz Fürsprache von Behörden und Persönlichkeiten verliert „Der Kreis“ sein Clublokal. Eine verleumderische Presse-Kampagne, vor allem in der Zürcher „Tat“ (ex Migros-Zeitung!), diskriminierte unsere Minderheit.“ (Club68, Nr. 1/1968)
Der KREIS-Club verliert sein Lokal in der «Eintracht / Theater am Neumarkt»: Ein Tanzverbot auf dem Gebiet der Stadt Zürich – gilt ausschliesslich für Homosexuelle.
Die Homosexuellen Arbeitsgruppen Basel forderten von Anfang an von den Stadtbehörden ein Lokal für Veranstaltungen. 1975 war es soweit. „Die staatliche Liegenschaftsverwaltung vermietete ihr ein Lokal (Ein altes Plattengeschäft hatte geschlossen, PT) im Volkshaus-Komplex. Sie stellte aber Bedingungen: „Von aussen dürfe nicht erkennbar sein, dass darin Schwule verkehren würden und im Hof sei es Männern nicht gestattet, sich zu küssen.“ (Männergeschichten, 1988, S. 111)
Heutzutage gibt es nur noch ganz wenige fixe Disco-Lokale, die täglich geöffnet haben. Die meisten Events finden „resident“ in hetero Clubs statt. Statt beständige Gaylokale gibt es immer wieder neue und wieder verschwindende Labels, die sich gegenseitig konkurrenzieren. Oft finden die gayevents an jenen Abenden statt, an denen bei den Heteros nicht viel läuft. Um die Schliessung von gay Lokalen zu verhindern, wurden vor einigen Jahren sogar Darkrooms eingerichtet, in denen jeder unkompliziert und anonym Sex machen konnte. Die aufwändigen Glitter- und Glamourshows mit Kostümen, Diven und Tunten sind verschwunden. An ihre Stelle sind Markenklamotten getreten. Statt Cocktails und Cola gibt’s Tabletten, um „drauf“ zu kommen, und nochmals Tabletten, um wieder davon herunter zu kommen. Ganz zu schweigen von den „Pflicht-Medis“ für HIV+ oder solche mit AIDS…
Auch die Event-Zeiten haben sich verändert. Die Liberalisierung der Öffnungszeiten hat das schwule Leben von der Abend- in die Morgenzeit verschoben. Egal ob man zur Arbeit gehen muss, oder ausschlafen kann. Das Personal muss natürlich auch „länger aufbleiben“!
Im grossen und ganzen könnte man sagen, die Weltstädte haben in den Dörfern die Schwulen eingeholt. Und egal wo auf der Welt gerade ein Gay anreist oder abreist, es ist immer dasselbe – die Infrastruktur, die Einrichtungen, die Öffnungszeiten, die Mode, die Musik, das Verhalten – Life sucks!
Das Internet hat wohl nun „alle Männer mit homosexuellen Bedürfnissen“ untereinander vernetzt? Sind die jahrhundertealten Klappen/Toiletten nun ins Internet umgezogen?? (haha!)
Nein umgekehrt: Die Männer sind von den Klappen in die schwulen Dating-Portale umgezogen. Es ist für die meisten wohl einfacher, sich da einzuloggen, als über die Schwelle eines Lokals zu treten. Und sei es auch nur eine „seriöse“ gay Sauna, in der sie keine Faker vorfinden, sondern realen Sexualkontakt haben könnten. Auch daran sehen wir die Grenzen der heterosexuellen Toleranz! Sie zeigt sich eben nicht an einer ausbleibenden Diskriminerung, sondern an der Ignoranz, die sie an Männer weiter gibt, die ihre homosexuellen Bedürfnisse weiterhin anonymisieren und verstecken. Solange dieser soziale Mechanismus nicht durchbrochen wird – von den Heteros, nicht den Männern – wird sich an der realsexuellen Situation der „Homos“ nichts ändern! Viele User auf den schwulen Internetseiten sind gar nicht schwul, oder gar gay = fröhlich. Sie benutzen diese Infrastruktur nur, um sich vom sexuellen Druck zu entlasten, während zuhause das Abendessen mit der Familie, oder der liebevoll kochende Freund wartet. Auf blauen Seiten stinkt’s eben nicht nach Urin…
Es gibt auch eine Gruppe von älter werdenden Schwulen und Männern, die fest damit gerechnet hatten, ihr Leben lang ihre homosexuellen Bedürfnisse auf Klappen entsorgen zu können – auch ohne Freund oder Familie. Die sind jetzt echt frustriert!
Aber letztlich geht es nur darum, Verantwortung für seine Sexualität und ihre Bedürfnisse zu übernehmen, oder dieser auszuweichen. Dazu muss einer nicht mal eine Klemmschwester sein. Je mehr ein Ort oder eine Applikation „sich rosa färbt“, desto distanzierter geben sie sich dazu. Dabei haben Heteros schon lange ihre Orte, die sich mit roten Lampen schmücken, ohne dass sie deswegen um ihren „heterosexuellen Ruf“ fürchten müssten.
„Anders als viele Lesben und Schwule haben Heterosexuelle eine „öffentliche Szene“, in der sie ihre Partner und Partnerinnen finden – das Leben. In der Schule, im Büro, in der Firma, während einer Reise, auf einer Party, beim Sport, in der Strassenbahn, auf dem Wochenmarkt … und in dieser Normalität finden sich die meisten Paare.“ (Braun/Martin, S. 22)
An diesen Orten finden aber auch sehr viele sexuelle Grenzüberschreitungen statt, weil nicht immer allen (möglichen) Beteiligten klar ist, was der/die Andere wirklich will. Daher ist das Verhalten in der hetero Szene auch nicht immer „normal“, weil ja aus der harmlosen Situation heraus, „der Faden für das sexuelle Interesse“ abrupt „eindeutig“ aufgenommen werden muss. Da können weltengrosse Spalten klaffen – nach einem solchen „(hetero)sexuellen coming out“. Darüber lesen wir auch fast jeden Tag in den Zeitungen.
Es wundert mich immer wieder, wie Junghomos sich ausdrücklich verbitten, auf homoSEXUELLEN Datingportalen „angemacht“ zu werden. Dabei werden sie nur mit den „Tatsachen des Lebens“ konfrontiert, die halt eine naive Perspektive gehörig stören können. Ganz zu schweigen von den „Arschgesichtern“ die da als Profilbilder herum geboten werden. Es ist witzig, wie das neue MANNSCHAFT-Magazin aus Bern als Printmedium ebenfalls versucht, ein Bild von Schwulen abzugeben, das quasi „frei ist von sexuellen Elementen“. Es erinnert mich an die alten Schwestern aus den 40er Jahren, die genauso verharmlosend auftraten, sich von jedem Stricher (hs Prostitution war damals verboten) lauthals distanzierten und noch heute im Projekt „Schwulengeschichte“ in der Broschüre behaupten: „Es geht um Liebe“. Wahrscheinlich hören sie noch immer im Unterbewussten ihre Mütter sagen: „Ich will meinen kleinen unschuldigen Jungen wieder haben…“
Spätestens seit AIDS sollte dies gegenüber den Heteros überflüssig geworden sein. Denn alle, die immer behauptet hatten, sie würden sich niemals in den Arsch ficken lassen, oder es selber tun, wurden Lügen gestraft. Diese aktuelle „öffentliche Rückkehr zur Unschuld“ ist schon erstaunlich! Dabei geht es im Internet, an anonymen Orten, auf Parties und in den Wohnungen und Schlafzimmern zusammenlebender Männer (was auch eine Szene ist) vorwiegend ganz anders zu. Eigentlich genauso wie bei den Heteros!
Wir haben es versäumt, oder keine Zeit gehabt wegen AIDS, eine homosexuelle Sexualkultur zu entwickeln. Stattdessen haben wir die „Schwulenehe“ eingeführt und hangeln uns den gleichen Problemen entlang wie Heteros. Doch während bei denen klar ist, wer Nonne und wer das Schwein spielen soll, können sich unsere „Schwestern“ mal wieder nicht einig werden – nur „vereinigen“ – Ihr wisst was ich meine! 😛
Peter Thommen, Schwulenaktivist (61), Basel
Hier eine ältere Diskussion: „Vor dem Ende des Homo-Milieus?“ (2009) mit Kommentaren
hetero bashing? Bin ich gegen „hetero“?
„Wir haben es versäumt, oder keine Zeit gehabt wegen AIDS, eine homosexuelle Sexualkultur zu entwickeln. Stattdessen haben wir die „Schwulenehe“ eingeführt und hangeln uns den gleichen Problemen entlang wie Heteros.“
——————————————————————————
Das stimmt so nicht. Dass das mit der „Ehe“ nicht funktionieren könne, war längst vor aids (Bolderntagung um 1980) klar. Ebenfalls, dass wir gut daran täten, auch den Hetis zu helfen, von ihrer „Ehe“ loszukommen.
Nur: Alle die „Kreis“- und SOH-Weicheier wollten lieber so sein wie alle andern auch: Wir hatten nicht keine Zeit. Wir waren zu blöd, zu ängstlich und zu faul. Aids lieferte am Schluss nur den Vorwand für unser Versagen. Mothergay
Pingback: QueerUp.ch